Das Seminar liefert eine Einführung in das Homöopathie-Verständnis von G.H.G Jahr und in die praktische Anwendung der von ihm kreierten homöopathischen Werke. Jahrs Repertorien, Arzneimittellehren und methodische Texte stellen die Quintessenz der äußerst erfolgreichen europäischen Homöopathie in der Mitte des 19. Jahrhunderts dar und bieten auch und gerade in der heutigen Zeit ein Höchstmaß an Orientierung und Sicherheit.
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Verordnungssicherheit durch Orientierung und Methodenbewußtsein
Fallverständnis – Diagnose, roter Faden und charakteristische Symptome
Fallanalyse und Mittelfindung mit verläßlichen und praxisrelevanten Werken
Arzneiverständnis – Erarbeitung der Charakteristik, Haupt- und Eigenwirkungen
Maximale Flexibilität und Handlungsfähigkeit durch Multiperspektivik
„Bene curat qui bene distingiut“
G.H.G. Jahr
Spätestens mit dem Ende des 19. Jahrhunderts...
Spätestens mit dem Ende des 19. Jahrhunderts setzt in der Homöopathie jene Entwicklung der Zersplitterung in die verschiedenen Konzepte und Richtungen ein, die sich bis heute (und dies leider nicht selten mit dem Impetus von Wahrheitsdiskursen) fortschreibt: Totalität der Symptome, Leitsymptome, Generalisierung, charakteristische Zeichenkombinationen, miasmatische Konzepte, klinische Homöopathie, vor allem aber der Kentianismus und seine epigonalen Entwicklungen (die alle mehr oder weniger stark durch das Moment eines spekulativen Subjektivismus gekennzeichnet sind) – um hier nur einige der wichtigsten zu nennen. Diese Vielgestaltigkeit miteinander nicht kompatibler Vorgehensweisen führt den Adepten der Homöopathie, sofern er sich nicht mono-methodisch für einen einzigen Ansatz entscheidet, nicht selten in massive methodische und in der Folge auch therapeutische Verwirrung.
Hinzu kommt, begünstigt vor allem durch die Möglichkeiten der digitalen Entwicklung der letzten 30 Jahre, das aus dem Ideal der ‚Vollständigkeit‘ resultierende Problem einer inflationären Aufblähung (und in letzter Konsequenz Zerstörung) der homöopathischen Arbeitswerkzeuge durch die unkritische Übernahme oftmals zweifelhafter, teilweise völlig spekulativer Nachträge, z.B. in den beliebten Nachtragsrepertorien Kentscher Prägung. Dies führt nicht nur zu einer völligen Inkohärenz der Mitteleinträge innerhalb einer Rubrik, sondern auch zu der Wertlosigkeit ihrer Verwendung, da mit jedem weiteren Arznei-Eintrag die Aussage- und Eliminationskraft der Rubrik abnimmt. Um die Zahl der wahlfähigen Arzneien überhaupt noch auf eine überschaubare Gruppe herunterbrechen zu können, wird der Einsatz von immer mehr Rubriken erforderlich – oftmals mit sehr unbefriedigenden Ergebnissen. Und um die überbordenden Datenmengen überhaupt noch beherrschen zu können, tritt an die Stelle von eigenverantwortlichem Fallverständnis und selbst erarbeiteter Mittelkenntnis und -wahl die Delegation an digitale Suchfilter und Algorithmen.
Wie wäre es deshalb, ein Homöopathie-Verständnis zu entwickeln, das verschiedenste Ansätze in einem übergeordneten Konzept vereinte – und zwar nicht im Sinne eines beliebigen Nebeneinanders, sondern vielmehr mit dem Ergebnis einer integralen Synthese, in der den konkurrierenden Einzelansätzen der ihnen jeweils angemessene Platz zugewiesen und die ihnen zukommende Indikation definiert wäre? Und wie wäre es, dieses Verständnis mit Repertorien und Arzneimittellehren praktisch umsetzen zu können, deren Einträge verläßlich und vor allem zielführend wären, weil sie sowohl das Kriterium der Zuverlässigkeit erfüllen als auch auf die charakteristischen Arzneizeichen und Rubrikeneinträge fokussieren würden?
Ein möglicher Weg dahin führt über die Beschäftigung mit dem Werk von G.H.G. Jahr (1801-1875), denn Jahr ist historisch gesehen wahrscheinlich einer der letzten Homöopathen, dem es nicht nur gelungen ist, die einander vermeintlich widersprechenden methodischen Stränge zusammenzudenken und unter dem Dach eines schlüssigen Konzepts zu vereinen, sondern auch in Gestalt seiner Repertorien, Arzneimittellehren und klinischen Leitfäden multiperspektivische und höchst verläßliche Arbeitswerkzeuge zu erstellen, die gleichberechtigte fallanalytische Einstiegsmöglichkeiten für die verschiedenen Herangehensweisen bereithalten.
Von Samuel Hahnemann hochgeschätzt, von Zeitgenossen diffamiert und von der Nachwelt schließlich vergessen, erhalten G.H.G. Jahr und sein Werk erst in den letzten Jahren wieder die ihm gebührende Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Wer jedoch in die Auseinandersetzung mit Jahr eintritt, dem erscheint schnell vollkommen unverständlich, daß ein methodisch derart klares und zugleich praxisrelevantes Werk über ein Jahrhundert lang nahezu vollständig ignoriert werden konnte.
Dieses in einem Zeitraum von mehr als 35 Jahren entstandene, aus diversen Arzneimittellehren, Repertorien, klinischen Leitfäden, aber auch Monographien zu speziellen Indikationen (z.B. Geistes- und Gemütskrankheiten, Frauenkrankheiten, Hautleiden, Erkrankungen der Verdauungsorgane) sowie theoretischen Schriften zu Methodik und Miasmatik bestehende Werk ist nicht nur vom Umfang her beeindruckend, sondern auch inhaltlich äußerst facettenreich. Bei jedem der Werke sind die Perspektive auf die Symptomatik und das fallanalytische Konzept etwas anders gelagert, d.h. die Werke sind nicht nur nicht durcheinander ersetzbar, sondern sie komplementieren einander konzeptionell.
Wie bei vielen anderen bedeutenden Homöopathen (z. B. Bönninghausen und Boger) ist die Werk-Entwicklung bei Jahr über die Jahrzehnte hinweg von einer zunehmenden Konzentration auf die wahlanzeigenden Symptome und Arzneien gekennzeichnet. Dem heutigen Mainstream-Zeitgeist der (wie auch immer verstandenen) Vollständigkeit der homöopathischen Arbeitswerkzeuge durch Nachträge diametral entgegengesetzt, ist das Jahrsche Werk von der Überzeugung gekennzeichnet, daß der Ähnlichkeitsbezug primär auf der Ebene der Charakteristik von Patientensymptomatik und Arznei und nicht auf der einer numerischen Symptomentotalität hergestellt werden muß.
Aus diesem Grund enthalten die Rubriken in den kurzgefaßten Repertorien und klinischen Leitfäden von Jahr jeweils nur solche Arzneien, die das jeweilige Symptom, die jeweilige Pathologie, die jeweilige Diathese ungleich deutlicher abdecken als alle anderen Arzneien in der Materia medica. Da derartige Rubriken a priori unvollständig sind, sind die Anforderungen an ihre Verwendung hoch: Weit davon entfernt, repertoriale Symptomendeckerei zu betreiben, strebt Jahr die Verwendung von lediglich zwei oder drei Rubriken zur Eingrenzung einer möglichst kleinen Gruppe von wahlfähigen Arzneien an, die anschließend in der Materia medica weiter differenziert werden müssen.
Es versteht sich von selbst, daß diese Rubriken gut gewählt sein müssen. Denn ob der repertoriale Zugang über ätiologische Parameter, charakteristische Partikularsymptome, allgemeine Charakteristika oder aber pathologische bzw. diathetische Charakteristika zu erfolgen hat, darüber ist in jedem einzelnen Krankheitsfall individuell und fernab jedweden Hierarchisierungsschemas neu zu befinden.
Grundlage hierfür ist ein Fallverständnis auf Basis einer semiotischen Analyse und Diagnose des Krankheitsfalles. Denn ungeachtet aller Unterschiede auf der ‚operativen‘ Ebene bei der praktischen Anwendung der einzelnen Werke vereint das Homöopathie-Konzept Jahrs nicht nur sämtliche Qualitäten der sogenannten genuinen, quellenbasierten Homöopathie in sich, sondern ergänzt und erweitert diese streng phänomenologisch orientierte Hahnemann’sche Homöopathie um die Dimension der Pathologie.
Damit ist nicht etwa allein der Wert der klinischen Verifizierung und/oder Heilbeobachtung gemeint, sondern vor allem die Integration eines semiotisch fundierten, d.h. ebenfalls zeichenbasierten Pathologie-Verständnisses. Letzteres ermöglicht auf Basis des medizinisch-semiotischen Verständnisses pathologischer Prozesse und Erkrankungen die Zusammenfassung phänomenologisch erfaßter Symptomengruppen in übergeordnete klinische ‚Diagnose‘-Begriffe.
So läßt sich etwa aus der Symptomentotalität einer individuellen Kopfschmerzsymptomatik über die semiotische Analyse der Lokalisationen, Empfindungen, Modalitäten und ggf. Begleiterscheinungen ableiten, ob es sich um ein kongestives, nervöses oder aber symptomatisches (z.B. gastrisches, rheumatisches, gichtisches etc.) Kopfschmerzgeschehen handelt. In gleicher Weise lassen sich auch die Arzneimittelprüfungen betrachten und entsprechendes pathologisches Wissen über die individuellen Wirkprofile der einzelnen Heilmittel generieren.
Diese Form der semiotisch-klinischen Generalisierung hat im Jahrschen Homöopathie-Konzept weitreichende Konsequenzen für sämtliche Bereiche der homöopathischen Therapie: Angefangen von den Anforderungen an Anamnese, Fallverständnis und Hierarchisierung der Symptome, über das Arzneiverständnis und viele andere grundlegende methodische Punkte bis hin zu der Weiterentwicklung von Hahnemanns Miasmen-Konzept in Form einer Ersetzung der eher spekulativen Entität ‚Psora‘ durch die über viele Jahrhunderte durch exakte klinische Beobachtung immer wieder semiotisch bestätigten chronischen Diathesen (z.B. Skrofulose, Rheumatismus, Gicht, Hysterie etc.) als der jeweils wesentlichen pathologischen Tendenz eines Organismus.
Der Vorteil einer derart vollzogenen Synthese aus Phänomenologie und Pathologie besteht darin, daß sie eine sehr variable und dem jeweiligen Krankheitsfall angemessene Betrachtung der Symptomatik ermöglicht. Für Jahr gibt es methodisch kein Entweder/Oder, sondern nur die Frage, unter welchen Umständen welche Betrachtungsweise (dann aber auch zwingend) indiziert ist. Je nachdem nämlich, wie die individuelle Symptomatik gelagert ist, hat der fallanalytische Ansatz notwendigerweise ein ätiologischer, symptomatisch-phänomenologischer, pathologischer oder aber miasmatisch-diathetischer zu sein.
Für alle diese Ansätze halten die Jahrschen Werke entsprechende Zugänge bereit:
Da die Rubriken in den umfangreicheren Jahrschen Werken (z.B. Handbuch der Haupt-Anzeigen, Klinische Anweisungen) in der Regel nur zwischen 20 und 35 Mitteleinträge enthalten, reduziert – wie oben gezeigt – bereits der Einsatz von nur zwei gut gewählten Rubriken, die die wesentlichen Charakteristika des Patientenfalles abdecken, die Gruppe der wahlfähigen Arzneien nicht selten auf eine einstellige Zahl. Zugespitzt wird dieses Prinzip der repertorialen Reduktion in Jahrs späteren Werken (Therapeutischer Leitfaden, Repertorium der wichtigsten klinischen Indikationen), die konzeptionell die Fokussierung auf eine einzige, zentrale Rubrik abzielen.
Die weitere Differenzierung erfolgt in den Jahrschen Werken über eine Materia-Medica oder klinische Kurz-Charakteristika, die allgemeine und partikulare Einträge aus den oben genannten Symptomenklassen enthalten, die für das jeweilige Mittel wiederum hochgradig charakteristisch sind. Hierbei gehört es zu der besonderen Qualität der Jahrschen Arzneimittellehren, daß in ihnen die Herkunft und Bewährtheit der einzelnen Symptome durch ein einfaches Signaturen-Prinzip kenntlich gemacht sind. Auf diese Weise ist der Leser in jedem Augenblick im Bilde, ob es sich bei dem Eintrag um ein noch unbestätigtes, ein verifiziertes oder gar mehrfach verifiziertes Prüfsymptom oder aber um ein reine Heilbeobachtung handelt.
Das Jahrsche Homöopathie-Konzept lehrt ein Fallverständnis auf der Basis von wirklich belastbaren Symptomen und die homöopathische Fallanalyse und Mittelfindung mit zwar reduzierten, dafür aber höchst verläßlichen und praxisrelevanten Arbeitswerkzeugen; aufgrund seiner immanenten Flexibilität schärft es das Methodenbewußtsein, integriert genuin-phänomenologisches und semiotisch-pathologisches Denken und schlägt so die Brücke zwischen konzeptionell unvereinbar scheinenden Positionen und Ansätzen innerhalb der Homöopathie. Die Beschäftigung damit kann gerade auch im 21. Jahrhundert, das durch viele verschiedene, nicht selten hochspekulative und wenig quellenorientierte Homöopathie-Ansätze gekennzeichnet ist, zu einer Rückbesinnung auf die Grundlagen der homöopathischen Arbeit führen – Grundlagen, ohne deren Kenntnis keine Verordnungssicherheit möglich ist.
Das PDF mit der Beschreibung hier herunterladen: PDF Gottlieb Heinrich Georg Jahr
Das Seminar (Präsenz-Veranstaltung, 2,5 Tage) liefert eine Einführung in Werk und Methodik G.H.G. Jahrs. Im Zentrum steht der Nachweis der enormen Praxistauglichkeit der Jahrschen Arbeitsmittel auch und gerade in der heutigen Zeit. Hierzu werden die verschiedenen Werke Jahrs in ihrer jeweiligen Eigenheit und Anwendungsweise vorgestellt; ein besonderer Schwerpunkt liegt hierbei auf der Mittelfindung mit Handbuch der Haupt-Anzeigen, Klinische Anweisungen und Therapeutischer Leitfaden.
Zugleich werden anhand von Originaltextstellen die wichtigsten methodischen Positionen Jahrs nachvollzogen. Immer wieder wird hierbei die ungeheure Modernität des Jahrschen Homöopathie-Verständnisses deutlich, das bis in die heutige Zeit ganz unterschiedlichen Entwicklungslinien der Homöopathie jeweils die entscheidenden Impulse gegeben hat.
Zur Anschaulichkeit und Lebendigkeit trägt eine Vielzahl von Kasuistiken bei; diese können teilweise von den Teilnehmern selbst mit den entsprechenden Arbeitsmitteln Jahrs bearbeitet werden, so daß auch die erste eigene praktische Erkundung und Anwendung der Jahrschen Werke und ihrer raffinierten Verfahren von Fallanalyse und Mittelfindung gewährleistet ist.
G.H.G. Jahr: Handbuch der Haupt-Anzeigen. Leipzig 41851. Neusatz: Verlag Ahlbrecht, Pohlheim 2015.
G.H.G. Jahr: Klinische Anweisungen. Leipzig 31867. Faksimile-Nachdruck: Verlag Ahlbrecht, Diathardt 2020.
G.H.G. Jahr: Repertorium der wichtigsten klinischen Indikationen. Paris 1872. Deutsche Übersetzung: Verlag Ahlbrecht, Pohlheim 2014.
G.H.G. Jahr: Therapeutischer Leitfaden. Leipzig 1867. Faksimile-Nachdruck: Verlag Ahlbrecht, Diethardt 2020.
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